Innerhalb von dreißig Jahren haben Friedrich und Hugo Meyer aus dem kleinen Familienbetrieb ihres Vaters mit 22 Mitarbeitern ein großindustrielles Unternehmen gemacht, in dem 1895 fast 1600 Menschen arbeiten. Die Zuckerraffinerie, ein Betrieb mit Hierarchien, prägt das Leben der Stadt Tangermünde. Ein Betriebsdirektor ist verantwortlich für den kaufmännischen Bereich, ein Betriebsingenieur für den technischen. Vier Betriebsinspektoren, zwei Maschinenmeister, ein Elektrotechniker, drei zusätzliche Techniker, sowie 26 Aufseher sorgen für reibungslose Produktionsabläufe. Im Kontor arbeiten 26 Beamte. Zu ihren Aufgaben gehört neben anderen das Einkaufen von Rohzucker und Rechnungen stellen. Allein in den Packsälen arbeiten 250 Menschen. Unter ihnen befinden sich auch Jungen und Mädchen im Alter von 14 – 16 Jahren, die täglich eine Stunde weniger als die Erwachsenen arbeiten. Die Stellung der einfachen Fabrikarbeiter ist ständig bedroht. Wenn die Produktion in der Zuckerraffinerie jedes Jahr im Herbst während der Rübenernte ruht, weil die Rohzuckervorräte aufgebraucht sind und Reparaturen anstehen, werden hunderte Arbeiter entlassen. Sie erhalten dann kein Geld und werden meist nach der Pause wiedereingestellt. Eine Sicherheit gibt es aber nicht.
Zu Saisonende mit Erhalt der Kündigung gehen viele Arbeiter zurück in ihre Heimat nach Polen beziehungsweise den damaligen preußischen Provinzen West- und Ostpreußen. Dort angeworbenen Saisonkräften wird die „Reise“ nach Tangermünde bezahlt. Saisonkräfte und alleinstehende Arbeiter können in Kasernen und Gemeinschaftsunterkünften wohnen, die Friedrich und Hugo Meyer ab 1892 bauen lassen. Vier bis acht Personen teilen sich ein Zimmer. Für 50 Pfennig pro Tag bekommen sie ab Anfang des 20. Jahrhunderts zum Schlafplatz noch zusätzlich: morgens Kaffee mit Semmel, Mittagbrot, Nachmittag Kaffee und Abendbrot und alle acht Tage können sie das Waschhaus benutzen. Bereits ab 1885 sind alle Beschäftigten in der Betriebskrankenkasse versichert. Pro verdiente Marken müssen die Versicherten zwei Pfennig an die Kasse abführen. 1893 betreibt die „Hülfskasse Meyersche Fabrikarbeiter ein eigenes Krankenhaus mit 36 Betten und Operationszimmer. Die Meyer sind bemüht um gute Arbeiter und werben mit Gesten wie kostenlosem Kaffee. Familien bei denen Mutter und Vater in der Fabrik arbeiten können ab 1895 zur Betreuung ihre Kinder das betriebseigene Kinderheim in Anspruch nehmen. Das zweistöckige Gebäude mit großer Veranda und Spielgarten ist auf halbem Weg zwischen Raffinerie und Innenstadt gelegen. Betreut werden bis zu 100 Kinder. Für die Fabrikarbeiter ist das Angebot kostenlos. Andere Tangermünder Familien können es kostenpflichtig nutzen. Das enorm gewachsene Unternehmen prägt das Leben der Stadt: mit den sozialen Einrichtungen wie Krankenhaus und Kinderheim und dem Fabrikkraftwerk, welches mittlerweile die gesamte Stadt mit Strom versorgt.
Die umstrittenen Gesetze Bismarks, welche unter anderem Versammlungen und Publikationen verboten hatten, werden nach dessen Ablösung 1890 nicht verlängert, sodass sich neue Möglichkeiten für Arbeiterbewegungen und Zusammenschlüsse eröffneten. Auch in Tangermünde wird 1890 der „Allgemeine Arbeiter-Verein für Tangermünde und Umgebung“ gegründet, dem 200 Mitglieder angehören. Dieser wird jedoch bereits ein Jahr später aufgelöst – vermutlich auf Druck von Friedrich und Hugo Meyer, die den Unruhestiftern mit Entlassung drohen. Vorerst kehrt Ruhe ein. Doch die Industrialisierung wächst. Um Magdeburg herum entsteht die „Zuckerprovinz Sachsen“. Während die Zuckerraffinerie Tangermünde durch Exporte bis Japan und Indien hohe Gewinne erzielt, sind die Löhne seit Jahren nicht gestiegen. Zu dieser Zeit wird täglich noch immer 11 Stunden gearbeitet – Bedingungen die dafür sorgen, dass es immer mehr brodelt. Am 11. März 1897 legen 932 Männer und Frauen die Arbeit nieder und fordern höhere Löhne und kürzere Arbeitszeit. Die Maschinen stehen still und zwingen die Brüder zum Verhandeln. Schnell kommt es zu einer Einigung. Die Löhne steigen um zehn Prozent, die Arbeitszeit pro Schicht wird auf zehn Stunden herabgesetzt. Doch die Unternehmer-Brüder sind gekränkt und so steht im Jahresbericht: „Eine Handvoll Leute, welche sich bei der Inscenierung des Aufstandes hervorgetan hatten, wurden nicht wieder angenommen, sondern definitiv entlassen. Die Arbeiter gehen selbstbewusst aus der Auseinandersetzung heraus. Ein Jahr später vernehmen Friedrich und Hugo Meyer, dass in Ihrer Fabrik gesammelt wird für einen weiteren Streik.
Um weitere Auseinandersetzungen zu vermeiden suchen die Meyers nach Möglichkeiten um die Belegschaft enger an sich zu binden. Ziel soll es werden einen festen Angestelltenstamm zu bilden mit strebsamen Arbeitern. Noch 1897 wird begonnen in Fabriknähe moderne Arbeiterwohnungen zu bauen. Im Gegensatz zu den „Kasernen“ bieten die Wohnungen der „Kolonie“ (heute Friedensstraße) geräumige Wohnstube, Schlafkammer, Küche, Toilette und einen Stall für eine Ziege und ein Schwein. Zwei Wohnungen teilen sich eine Waschküche. 22 Doppelhäuser und ein Dreifamilienhaus bieten 90 Familien mit etwa 500 Personen zu Anfang des 20. Jahrhunderts ein komfortables Heim. Bei gleichzeitig steigendem Lohn bringen es viele Fabrikmitarbeiter mit ihren Familien zu bescheidenem Wohlstand.